Hinhören
Programm
György Kurtag (*1926)
Sätze aus Jatekok (Spiele)
Versetto: Temptavit Deus Abraham…(Gott stellt Abraham auf die Probe)
Versetto: Consurrexit Cain adversus fratrem suum… (Kain erhob sich gegen seinen Bruder)
Versetto: Dixit Dominus ad Noe: finis universe carnis venit…(Der Herr sprach zu Noah: Das Ende allen Fleisches ist gekommen)
Improvisation - hörgrenze
György Kurtag (*1926)
Sätze aus Jatekok (Spiele)
Apokryphe Hymne
In memoriam Dr. György Nádor
In memoriam Lajos Vass
Improvisation - wiederholungen
György Kurtag (*1926)
Sätze aus Jatekok (Spiele)
Ligatura x (aus Jatekok)
…humble regard sur Olivier Messiaen… (b)
Improvisation - quartal harmony
Michael Pisaro (*1961)
The Organ of Corti (2018)
Michael Schultheis, Orgel
Die Konzertreihe “neuer geist. neue musik” widmet sich der Orgel als faszinierendes Spielfeld für außergewöhnliche Musik. Nicht die vertrauten Klänge gibt es hier zu hören, sondern ausschließlich Musik aus dem 20. und 21. Jahrhundert. Kompositionen und Improvisationen, die andere Wege gehen, neue Klänge ausprobieren, den Hörer überraschen, herausfordern, an die Grenzen des Möglichen gehen. Im Mittelpunkt dieses Konzerts steht das aktive Hinhören als Grundvoraussetzungen des Konzertgenusses. Die gespielten Werke fordern dies auf die ein oder andere Weise heraus, durch ihre Kürze oder Länge:
György Kurtags Zyklus “Jatekok” (zu Deutsch “Spiele”) ist eine über viele Jahre entstandene Sammlung von vielen kleinen Klavierstücken, häufig als pädagogische Werke für Schüler gedacht, quasi musikalische “Aphorismen”. Viele davon sind Freunden und Kollegen gewidmet, wie z.B. Olivier Messiaen, der selbst einer der ganz großen Orgelkomponisten der Moderne war. Einige dieser Stücke sind auch auf der Orgel ausführbar. Kurtags Tonsprache ist atonal, kühl, rätselhaft, wie dahingetupfte Farbkleckse auf einer Leinwand oder verwackelte Schnappschüsse.
Das sogenannte Corti-Organ ist der Sitz des Gehörssinn in der “Schnecke” des menschlichen Innenohres. Mit diesem Wortspiel bezeichnet der Amerikaner Michael Pisaro sein Orgelstück, das ganz im Gegensatz zur Kurtag vor allem die Unendlichkeit des Klangs zelebriert. Typisch für die Komponisten der Wandelweiser-Gruppe, zu denen auch Pisaro gehört, baut es sich aus sehr wenigen Klängen auf. Nicht virtuose Zurschaustellung von Ideen und technischem Können des Organisten treibt Pisaro an, sondern das Erzeugen einer konzentrierten Hörhaltung, in der das Vergehen der Zeit völlig verschwimmt und kleinste Nuancen plötzlich eine Bedeutung bekommen. Durch die gleichzeitig durchgehend hohe Lautstärke und die massigen Akkorden ertrinkt der Zuhörer förmlich im Klang.
Dazwischen stehen die Improvisationen von Michael Schultheis. Sie speisen sich aus Assoziationen von Bewegungen, Formen und Farben, greifen hier auch Motive aus Kurtags Stücken auf. Wie fremdartige Pflanzen ranken sie um kleine Motive herum, deuten kurzzeitig vertraute Dinge an und überwuchern diese dann wieder. In immer wieder neuen, mal zarten, mal scharfen, mal seltsamen Klangfarben demonstrieren sie Spielfreude und unaufhörlichen Erfindungsreichtum auf dem alten Instrument Orgel.
Biografien:
Michael Pisaro
Michael Pisaro-Liu (geboren 1961 in Buffalo, New York) ist Gitarrist und Komponist und ein langjähriges Mitglied des Kollektivs Wandelweiser. Während Pisaro-Liu, wie auch die anderen Mitglieder von Wandelweiser, für Stücke von langer Dauer mit Perioden der Stille bekannt ist, hat sich seine Arbeit in den letzten fünfzehn Jahren in viele Richtungen verzweigt, einschließlich der Arbeit mit Field Recording, Elektronik, Improvisation und Ensembles von sehr unterschiedlicher instrumentaler Zusammensetzung.
Pisaro-Liu arbeitet seit langem mit dem Schlagzeuger Greg Stuart, außerdem in verschiedenen Duos. In jüngster Zeit entstanden mehrere Kompositionen für Orchester, darunter Auftragswerke für das BBC Scottish Symphony, das INSUB MetaOrchestra und das Grand Orchestre de Muzzix. Ein großer Teil seiner aktuellen Arbeit hat die Form von Mixed-Media-Assemblagen in Zusammenarbeit mit der Filmemacherin, Künstlerin und Autorin Cherlyn Hsing-Hsin Pisaro-Liu.
Seine Werke werden regelmäßig in den USA, Europa, Südamerika und Südostasien aufgeführt.
Pisaro-Liu ist Direktor für Komposition und experimentelle Musik am California Institute of the Arts.
György Kurtag
Der ungarische Komponist und Pianist György Kurtág feiert am 19. Februar 2023 seinen 97. Geburtstag. Geboren in Lugos, Rumänien, siedelte er 1946 nach Budapest über und studierte an der Franz-Liszt-Akademie Komposition bei Sándor Veress und Ferenc Farkas, Klavier bei Pál Kadosa und Kammermusik bei Leó Weiner. Von 1957 bis 1958 nahm er an Kompositionskursen bei Darius Milhaud und Olivier Messiaen in Paris teil. Heute gilt György Kurtág neben György Ligeti als der bedeutendste ungarische Komponist der Nachkriegsgeschichte. Anders als Ligeti verließ er Ungarn nach dem Aufstand 1956 nicht, sondern blieb zunächst in Budapest, wo er von 1967 bis 1993 an der dortigen Franz-Liszt-Musikakademie Klavier und Kammermusik unterrichtete. Als Komponist wurde er daher in der westlichen Musikszene kaum wahrgenommen. Erst Mitte der 70er Jahre wurde seine Musik allmählich in Westeuropa bekannt. So lud ihn 1993 das Wissenschaftskolleg zu Berlin für zwei Jahre als „Composer in residence“ der Berliner Philharmoniker ein. Im Jahr 1998 erhielt er den renommierten Preis der Ernst von Siemens Musikstiftung, 2001 den Friedrich-Hölderlin-Preis der Universitätsstadt Tübingen und 2009 den Goldenen Löwen der Biennale von Venedig für sein Lebenswerk im Rahmen des 53. Internationalen Festivals für zeitgenössische Musik. 2001 wurde er in die American Academy of Arts and Sciences gewählt. Heute werden seine Werke weltweit aufgeführt und liegen in diversen CD-Aufnahmen vor. Er schrieb vor allem Orchesterwerke, Chorwerke, Kammermusik und Werke für Soloinstrumente.
Michael Schultheis ist Komponist, Organist und Pianist. In seiner Musik verschmelzen Minimalismus und Komplexität, Experiment und Nostalgie, Konstruktion und Emotion zu einer farbenreichen und zugleich zurückgenommenen Klangsprache. Wiederkehrende Elemente seiner Musik sind zart ausgehörte Klangverbindungen, Raumwirkungen, mathematische organisierte Rhythmusfolgen, aber ebenso die Stärkung des Interpreten durch Einräumung von Freiheiten. Vorgefundenes oder Erinnertes wird zum Kristallisationspunkt für Neues - neu kontextualisiert, transformiert, dekonstruiert.
Sein besonderes Interesse gilt der Orgel, deren zahlreiche Klangmöglichkeiten er immer wieder durch atmosphärische Flächen, glitzernde Kaskaden und geräuschhafte Impulse experimentell erkundet. Für die Aufführung seiner Werke arbeitete er unter anderem mit dem Ensemble „Sinfonie NRW“, dem Hagener Kammerorchester, dem Bach-Chor Hagen, dem Tuba-Ensemble der TU-Dortmund und zahlreichen Solistinnen und Solisten (u.a. Melvyn Poore, Alexander Schwalb, Ruth Theresa Fiedler) zusammen. Mit seinem Werk “Theme and Variations on Londonderry Air” für Orgel gewann er den ersten Preis des britischen “Angels of Creation Composition Competition 2019”. Seine Werke sind im ARE-Verlag (Dominik Susteck) veröffentlicht.
Michael Schultheis wurde 1985 geboren und legte sein erstes Staatsexamen in Chemie und Musik mit Hauptfach Klavier im Jahr 2010 bei Michael Zieschang in Dortmund ab. Er arbeitet als Oberstudienrat und Musikkoordinator am katholischen Hildegardis-Gymnasium in Hagen, wo er mit Schülerinnen und Schülern Projekte zum Komponieren und zu Neuer Musik gestaltet und die Initiative “impulsklang” ins Leben gerufen hat. Weitere Tätigkeiten als Referent für kirchliche Komposition runden sein Schaffen ab.