Laute Lust
für 8-stimmigen Doppelchor a capella (2024)
UA: 28.09.2024 Neustädter Hof- und Stadtkirche, Hannover, Voktett Hannover
(8min)
Information
Die Komposition basiert auf dem Gedicht "Der Abend" (1817) von Joseph von Eichendorff. In seiner romantischen Vorstellung kann der Mensch nur in der Stille des Waldes am Abend zu sich selbst finden und sein Herz bewegen lassen. Einzelne Gedichtzeilen von Richard Dehmel, Alfred Wolfenstein und Georg Heym treten kommentierend sprechend zwischen die Eichendorff-Verse. Die Gedichte der Expressionisten, die gute einhundert Jahre später entstanden sind, wirken wie eine späte Antwort auf die Ängste der Romantiker, die bereits im 19. Jahrhundert die (Welt)Flucht in die Natur als Ausweg von der sich verändernden, auch industrialisierenden, Lebenswelt sahen. Auch hier werden Vorstellungen vom Abend thematisiert, der Kontrast von Stadt und Land, die Erfahrungen des Krieges. Die Texte begegnen sich über den Abgrund der Zeit hinweg dialogisch und verbinden sich zu einer zaghaft hoffnungsvollen Botschaft an die Gegenwart.
Akustische („Schweigt“, „laut“, „Rauscht“) und visuelle („schweifen“, „wetterleuchtend“) Begriffe des Eichendorff-Textes sind die Ankerpunkte für diese Vertonung, die ein sinnliches Klangerleben in den Vordergrund stellt. Mit der Aufspaltung in die Doppelchörigkeit wird ein Mittel zur subtilen Klangdifferenzierung etabliert. Durch die zusätzlich räumliche entfernte Aufstellung werden Klängemöglich, die das Rauschen und Wogen der Bäume und das Wetterleuchten (das ja immer auch ein in der Ferne stattfindendes Phänomen ist) akustisch übersetzen. Dabei werden verschiedenste Techniken erkundet, die Doppelchörigkeit zu nutzen: Ping-Pong-Effekte (die der Popmusik entlehnt sind), Vokalüberblendungen, bitonale Strukturen, rhythmisch unabhängige Klangblöcke. Zahlreichende Glissandi verstärken dabei den Eindruck eines hin- und herwogenden Klanges. Die Worte werden dabei stellenweise in ihre Phoneme aufgelöst und herumgereicht.
Harmonisch spielt die Musik an vielen Stellen auf Klangidiome der Romantik an, besonders deutlich an der Stelle „Alte Zeiten, linde Trauer“ und verweist damit auf ihre eigene Geschichtlichkeit. Techniken wie der Einsatz von Glissando, der Einschub gesprochener Teile und die Collagierung des Klanges dagegen brechen dieses Klangidiom und machen seine Geschichtlichkeit deutlich. Die Klanglichkeit der Romantik, die auch heute noch vielfach als Ideal klassischer Musik angesehen und imitiert wird (z.B. in der Filmmusik), ist eben keine zeitlose Musik, sondern an ein längst vergangenes Lebensgefühl gebunden, das bis heute Sehnsuchtsgefühle und Nostalgie weckt.
The composition is based on the poem “Der Abend” (1817) by Joseph von Eichendorff. In his romantic imagination, man can only find himself in the silence of the forest in the evening and let his heart be moved. Individual lines of poetry by Richard Dehmel, Alfred Wolfenstein and Georg Heym intersperse the Eichendorff verses with commentary. The poems of the Expressionists, written a good hundred years later, seem like a late response to the fears of the Romantics, who, as early as the 19th century, saw an escape into nature as a way out of the changing and industrializing world. Here, too, ideas of the evening are thematized, the contrast between city and country, the experiences of war. The texts meet in dialog across the abyss of time and combine to form a tentatively hopeful message to the present.
Acoustic (“Schweigt”, “laut”, “Rauscht”) and visual (“schweifen”, “wetterleuchtend”) terms from Eichendorff's text are the anchor points for this setting, which emphasizes a sensual sound experience. The division into double choirs establishes a means of subtle sound differentiation. The additional spatial distance makes it possible to create sounds that acoustically translate the rustling and swaying of the trees and the glow of the weather (which is always a distant phenomenon). Various techniques for using the double choir are explored: Ping-pong effects (borrowed from pop music), vocal fades, bitonal structures, rhythmically independent blocks of sound. Numerous glissandi reinforce the impression of an undulating sound. In places, the words are broken down into their phonemes and passed around.
Harmonically, the music alludes to sound idioms of the Romantic period in many places, particularly clearly in the passage “Alte Zeiten, linde Trauer” (Old times, limey mourning) and thus refers to its own historicity. Techniques such as the use of glissando, the insertion of spoken parts and the collaging of the sound, on the other hand, break this sound idiom and make its historicity clear. The sound of Romanticism, which is still often regarded and imitated today as the ideal of classical music (e.g. in film music), is not timeless music, but is linked to a long-gone attitude to life that still awakens feelings of longing and nostalgia today.